Praxishandbuch
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Theologische Perspektiven auf Väter und ihre Kinder
Erziehungsverantwortung - biblische Aspekte zur
Vaterschaft
Volker A. Lehnert
Jesus von Nazareth und die Vaterschaft Gottes
Bekanntlich benutzte Jesus zur Anrede Gottes den aramäischen Ausdruck
"Abba", am ehesten zu übersetzen mit "Papa" oder "Vati". Das Fehlen von
echten Analogien für solch eine vertrauliche, ja geradezu intime
Gottesanrede weist auf eine glaubwürdige Erinnerung an die historische
Stimme Jesu. Charakterisierte Jesus seine Gottesbeziehung als ‚Vater-Kind-
Beziehung', so zeigt dies dessen hohe Wertschätzung von Vaterschaft,
ansonsten hätte er wohl eine alternative Metaphorik favorisiert.
Selbstverständlich darf diese Metaphorik nicht überzogen werden, schon gar
nicht als moralisches Ideal väterlicher Erziehung. Denn in diesem Fall
bestünde die ideale Vaterschaft in der grenzenlosen Bereitschaft, seine
Kinder "dahinzugeben", was eine fatale Folge von unerlaubter
Ontologisierung metaphorischer Rede wäre. Schon in Gen 22,1-19, der
berüchtigten Erzählung von der ‚Opferung Isaaks', setzt Gott
höchstpersönlich diesem Missverständnis ein unmissverständliches Nein
entgegen.
Dennoch: Der Sprachgebrauch Jesu belegt eine grundsätzlich positive
Konnotation des Vaterbegriffes. Darüber hinaus lassen sich weitere Aspekte
finden:
Treue gewährleisten:
Väter lassen ihre Kinder los, aber sie verlassen sie nicht
Am Kreuz ruft Jesus: "Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" (Mk
15,34). Die existenzielle Katastrophe bestand für ihn offensichtlich weniger
im bevorstehen-den Tod als in seiner verzweifelten Angst, sein ‚Vater' habe
ihn verlassen, eine Befürchtung, die Gott in der Auferweckung widerlegt.
Von den eigenen Eltern aufgegeben zu werden, gehört zum Schlimmsten,
was wir Kinderseelen antun können. Dabei sind die Grenzen zwischen
Vernachlässigung und Missachtung fließend. Alexander Mitscherlich hat
einst die Folgen einer "vaterlosen Gesellschaft" in einer nach wie vor
aufschlussreichen Monographie beschrieben. Treue und Verlässlichkeit
gehören daher ebenfalls zu den konstitutiven Elementen eines biblisch
orientierten Vaterbildes.
Eigenverantwortung ermöglichen:
Väter halten ihr Kind auf Dauer im Blick, nicht an der Hand
In Diskussionen über das Gleichnis vom verlorenen Sohn, von J. Jeremias
übrigens als Parabel von der ‚Liebe des Vaters' (Lk 15,11-32) bezeichnet ,
wird oft die Frage gestellt, wie sich eigentlich eine Mutter in dieser Situation
verhalten hätte? Hätte sie auch abgewartet wie dieser Vater? Oder wäre sie
ihrem Sohn hinterher gegangen, um ihn heim zu holen wie jene russischen
Mütter, die ihre Söhne weiland aus dem tschetschenischen Kriegsgebiet
herausholen wollten? Die Frage ist müßig, denn wahrscheinlich gibt es
solche und solche unter Müttern und Vätern. Der Vater im Gleichnis geht
seinem Sohn nicht nach, aber er symbolisiert die bleibende Vaterschaft bei
einseitig gekündigter Beziehung. Selbst wenn die Beiden ihr Leben lang
nicht mehr miteinander kommuniziert hätten, sie wären doch Sohn und Vater
geblieben. Vaterschaft ist nicht kündbar, nur ihre Ausführung kann
verweigert werden. Patchworkfamilien wissen, was dies heißt: bleibende
Elternschaft bei unterbrochenen Beziehungen. Der Vater im Gleichnis hält
die Beziehung andockfähig für einen Neuanfang. Er behält sein Kind im
Blick, nicht aber an der Hand. Er billigt ihm zu, die Fehler seines Lebens
selber machen zu dürfen. Er ist für sein Kind da, aber er kann nicht dessen
Leben leben. Das muss jede und jeder selber tun, mit allen Risiken und
Nebenwirkungen. Der Kuchen muss immer aus der Form! Auf genau diese
Weise sind Väter in nicht unerheblichem Maße an der Entwicklung von
Stärke und aufrechtem Gang beteiligt. Overprotectors fördern Ängstlichkeit,
denn sie signalisieren: Ohne meine Hilfe bist du hilflos! Väter gewähren
Freiraum, weil sie im Risiko der Freiheit eine Chance zur Reifung wittern.
Schutz bieten: Väter kämpfen für ihre Kinder
In Joh 4,43-54 finden wir eine Variation der Erzählung des Hauptmanns von
Kapernaum. Trat dort ein Hauptmann bei Jesus für die Heilung seines
Knechtes ein, so hier ein ‚Königlicher' für die Heilung seines Sohnes. Eine
ähnliche Geschichte ist überliefert in Mk 5,22ff, in der ein Vater für seine
Tochter eintritt. Hier kämpfen Väter für und um ihre Kinder. Sie treten für sie
bei Gott ein, suchen für sie Hilfe, ringen um ihr Leben. Leben und
Wohlergehen ihrer Kinder machen Sie zu ihrer ureigensten Sache. Und
heute? Wie viele Väter begleiten ihre Kindern zum Arzt, gehen zum
Elternabend des Kindergartens oder zum Elternsprechtag in die Schule?
Aber so wie es aus der Familie in den Beruf flüchtende Väter gibt, so gibt es
auch solche, die um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ringen und
unter der entsprechenden partiellen Unvereinbarkeit leiden. Nach einer
neuen Studie des Münchner Väterforschers Wassilios Fthenakis gehören
zur ersten Gruppe 34% aller Männer, zur zweiten in-zwischen aber 66%. So
übernehmen liebende Väter Verantwortung für Ihre Kinder und bieten Ihnen
Schutz.
Verantwortung übernehmen:
Vaterschaft ist mehr als biologische Erzeugerschaft
Vaterschaft umfasst nicht nur die biologische, sondern auch die
psychosoziale Dimension. Josef musste nach menschlichem Ermessen
davon ausgehen, dass Maria unehelich schwanger war, und er jedenfalls
nicht der Vater war. Erst durch eine persönliche Engelsunterweisung wird er
über die göttliche Hintergrundregie informiert (Mt 1,18-25). Daraufhin nimmt
er seine Rolle in dieser himmlischen Dramaturgie an. Er übernimmt die
irdische Vaterschaft Jesu. Vatersein impliziert eben wesentlich mehr als
bloße biologische Erzeugerschaft. Vaterschaft muss bewusst angenommen
werden. Wird sie verweigert, bekommen wir mit den bereits erwähnten
Implikationen der ‚vaterlosen Gesellschaft' zu tun. Erfahren Kinder keine
liebenden Väter, werden sie diese ihr Leben lang suchen. Fanatische
Religiosität oder Anfälligkeit für Ideologien des ‚starken Mannes' können die
Folge sein. Beides gilt es zu verhindern. Wodurch? Unter anderem durch
eine verantwortungsvoll gelebte Vaterschaft. Ein Vater muss auch ‚dem
Geiste nach' (vgl. Röm 2,29) ein Vater sein. Der inneren Verletzung durch
den Übervater (Moser) entspricht nämlich die emotionale Verunsicherung
durch den abwesenden Vater (Mitscherlich).